Cuxland

So grausam ist das Netz: Fahrt in den Tod live auf Facebook

Ein beklemmendes Video kursiert in den Sozialen Medien. Es zeigt die letzten Minuten vor einem tödlichen Unfall auf der A27 im Kreis Cuxhaven. Es ist einer dieser Momente, in denen das Netz sich verselbstständigt und nichts Gutes dabei entsteht.

Facebook-Live von einer Fahrt in den Tod auf der A27 zwischen Bremerhaven und Cuxhaven: Eine 19-Jährige hat, ohne es zu ahnen, die letzten Minuten vor ihrem Tod im Netz gestreamt.

Facebook-Live von einer Fahrt in den Tod auf der A27 zwischen Bremerhaven und Cuxhaven: Eine 19-Jährige hat, ohne es zu ahnen, die letzten Minuten vor ihrem Tod im Netz gestreamt.

Einen Tag vor Heiligabend fahren sechs Frauen aus Bremerhaven auf der Autobahn Richtung Cuxhaven. Wenige Stunden danach verbreitet sich eine schlimme Nachricht: Schwerer Verkehrsunfall auf der A27 zwischen Debstedt und Neuenwalde - eine 19-Jährige und eine 39-Jährige starben dabei. Eine Frau wurde lebensbedrohlich, drei weitere werden leicht verletzt.

Dieser schwere Verkehrsunfall hat aber noch eine andere Dimension: Er war live im Internet mitzuerleben, und er ist dort immer noch zu sehen.

Eine 19-Jährige Insassin hat die Minuten vor dem Unfall live auf Facebook gestreamt - nicht ahnend, dass so in den folgenden Tagen tausende Menschen ihre Fahrt in den Tod miterleben können.

Ausgelassene Stimmung zu türkischsprachiger Musik

Die Stimmung im Auto ist ausgelassen. Es läuft moderne türkischsprachige Musik, die Hände der Frauen tanzen durch die Luft.

Die Kamera des Handys schwenkt hin und her, fängt lachende Gesichter ein, aber auch Außenaufnahmen und den Schriftzug auf der Heckscheibe des Wagens der sechs Frauen: Dort steht der Name eines Personaldienstleisters aus Cuxhaven.

Auch die 19-Jährige mit den dunklen Haaren und den großen, braunen Augen zeigt sich kurz vor der Kamera - lacht, bewegt sich zur Musik, spricht auf türkisch mit ihren Mitfahrerinnen.

Mit dem Wissen, das gleich ein schrecklicher Unfall passieren wird, wirken diese fröhlichen Aufnahmen beklemmend.

Während die sechs Frauen im Auto feiern, stellen sich dem Zuschauenden unweigerlich Fragen: Wie aufmerksam fährt die Frau am Steuer? Wird sie sich ablenken lassen? Wie kommt es zu dem tödlichen Unfall?

Doch im Gegensatz zu den übrigen Frauen bleibt der Blick der Fahrerin auf die Straße gerichtet - nur manchmal lässt sie eine Hand zum Beat tanzen. Mehrfach ist sie auf der Überholspur unterwegs. Sie fährt zügig, aber offenbar kontrolliert.

Bis zur Minute 5:53 gibt es keinerlei Anzeichen für ein tragisches Ende. Die Szenerie ist gleichbleibend heiter. Sechs Frauen, bester Laune, in guter Gemeinschaft unterwegs.

Doch dann, im Bruchteil einer Sekunde, bricht ihre Welt zusammen.

Die Frauen schreien in Todesangst

Ein kleiner Schatten hinter der überbelichteten Frontscheibe lässt möglicherweise ein anderes, zu nahes Auto erahnen. Dann schwenkt die Kamera hektisch nach rechts. Die sechs Frauen schreien in Todesangst. Autositze sind zu sehen, Hände. Ein dumpfer Aufprall ist zu hören. Dann wird alles weiß.

Plötzlich ist Stille.

Und der Zuschauer bleibt mit diesen jähen Schreckensbildern alleine zurück. Betroffen, entsetzt, stumm.

Es ist einer dieser Momente, in denen das Internet mit seinen Möglichkeiten Einblicke bietet, die viele verstören und die niemandem außer der Polizei bei der Untersuchung des Unfalls wirklich etwas nützen.

Die Cuxhavener Polizei teilt später mit, was das Video nicht zeigt: Demnach gerät der Siebensitzer aus bisher unbekannten Gründen ins Schleudern, touchiert einen weiteren Pkw, kollidiert mit der Leitplanke. Dann schleudert das Auto zurück auf die Fahrbahn und kommt entgegengesetzt der Fahrtrichtung an der Mittelschutzplanke zum Stehen.

Der Siebensitzer mit den sechs Frauen verunglückte auf der A27 zwischen Debstedt und Neuenwalde.

Der Siebensitzer mit den sechs Frauen verunglückte auf der A27 zwischen Debstedt und Neuenwalde.

Foto: Polizei Cuxhaven

Drei der sechs Frauen werden aus dem Fahrzeug geschleudert. Die Ermittler gehen davon aus, dass sie nicht angeschnallt waren. Zwei sterben dabei - eine von ihnen ist die 19-Jährige, auf deren Facebook-Seite das Video bis heute steht und von wo aus es sich unkontrolliert verbreitet.

Über 300.000 Aufrufe und tausende Kommentare

Als sie den Live-Stream startete, konnte sie nicht wissen, welche Bedeutung der Clip einmal haben würde, dass Hunderttausende Menschen und die Polizei ihn sehen werden.

Seit dem 23. Dezember wurde ihr Video in Facebook über 300.000 Mal aufgerufen, über 2.800 Mal geteilt und etwa 1.400 mal kommentiert (Stand 30. Dezember). In den kommenden Tagen werden sich diese Zahlen weiter vervielfachen.

In den meist türkischsprachigen Kommentaren werden vor allem die Verstorbenen betrauert. „Möge Gott ihnen gnädig sein und ihre Seelen im Himmel sein“, heißt es dort immer wieder.

Aber selbst bei diesem Anlass gibt es auch die für das Internet typischen kritischen Kommentare: „Sind die betrunken oder was? Man lenkt den Fahrer nicht so sehr ab“ oder „Es ist ganz logisch das die einen Unfall hat. Niemand schaut auf die Straße.“

Die Verbreitung verselbstständigt sich

Wie immer gibt es im Netz viele Meinungen - und viele, die glauben, sie kundtun zu müssen, selbst wenn es um den Tod zweier Menschen geht. Schuldzuweisungen und Abwertungen der Verstorbenen sind dabei keine Seltenheit.

Ob die Frauen der Verbreitung des Videos zustimmen würden, hat an diesem Punkt keinen Einfluss mehr. Das Video hat längst ein Eigenleben entwickelt.

Laut Polizei Cuxhaven gibt es keine Rechtsgrundlage für eine Löschung des Videos durch den Facebook-Konzerns. Nur die Familie der 19-Jährigen könnte das Video von ihrer Seite nehmen. Aber auch nach der Löschung würde sich das Video von der Fahrt in den Tod weiter im Internet verbreiten.

Anmerkung der Redaktion

Wir haben uns nach längerer Diskussion bewusst dafür entschieden, den Umgang des Netzes mit dem Video in dieser Weise zu thematisieren. Von vornherein war für uns dabei klar, dass wir das Video hier nicht zugänglich machen.

Die Redaktion von Nordsee-Zeitung.de

Luise Maria Langen

Reporterin

Luise Langen arbeitet seit 2020 als Reporterin für die NORDSEE-ZEITUNG. Von guten Geschichten war die gebürtige Berlinerin aber schon immer begeistert – auch während ihres Germanistik-Studiums in Österreich und der Zeit als Regieassistentin am Stadttheater Bremerhaven.

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