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WM-Kolumne: Im Hotel der großen Überraschung

Vom 20. November bis 18. Dezember findet in Katar die umstrittene Fußball-Weltmeisterschaft statt. Reporter Wolfgang Stephan blickt aufs Sportliche, aber auch hinter die Kulissen und berichtet für uns vor Ort.

Eine Verkehrsinsel vor dem Al Shamal-Stadion am Rande von Al-Ruwais ist mit Flaggen der teilnehmenden Nationen der FIFA WM 2022 in Katar dekoriert.

Eine Verkehrsinsel vor dem Al Shamal-Stadion am Rande von Al-Ruwais ist mit Flaggen der teilnehmenden Nationen der FIFA WM 2022 in Katar dekoriert.

Foto: Christian Charisius/dpa

In dieser Kolumne berichtet Reporter Wolfgang Stephan von seinen Eindrücken vor Ort und gibt in kurzen Videostatements Ausblicke, auf das was folgt.

Im Hotel der großen Überraschung

„Das Hotel in dem die Spieler und deren Familien untergebracht sind, fühlt sich gelegentlich wie ein entzückendes, von Eltern geführtes Sommercamp an“, berichtete der arabische Sender Al Jazeera aus Doha. Das war zu einem Zeitpunkt, an dem sich noch niemand für das Wyndham Doha West Bay Hotel so wirklich interessierte. Es ist eines von 78 Top-Hotels im Fünf-Sterne-Ranking in Doha, nicht ganz oben angesiedelt. Aber das Wyndham hat etwas, was keiner der Mitbewerber aufweisen kann. Es beherbergt die WM-Überraschung schlechthin. Die Marokkaner. „Du hättest vor zwei Wochen kommen sollen, da gab es noch keinen Zaun“, sagte mir ein katarischer Polizist inmitten von Fans, die darauf warten, dass ihre Idole in den hinterm Zaun stehenden Bus steigen. Gut 150 Fans im roten Trikot mit Schals und Stiften ausgestattet, warten sitzend oder stehend geduldig auf ihre Idole. „Einer kommt immer“, sagt Ahmed, der bereits 14 Autogramme auf seinem sehr gebraucht aussehenden Block gesammelt hat.

Auf der anderen Seite des Komplexes stehe ich am Montagmittag am Haupteingang des Wyndham. Geschäftiges Treiben, denn das Hotel mit seinen über 1.000 Betten auf 40 Etagen lebt nicht nur von den Marokkanern. Ohne Zimmerkarte kein Eintritt. Die Fifa-Akkreditierung überzeugt dann aber doch. Vielleicht läuft mir ja irgendwie Walid Regragui über den Weg, den würde ich erkennen, den Trainer, der es geschafft hat, vom Nobody in zehn Tagen zum gefeierten Medien-Helden zu werden. Der viel Pathos auf der Zunge trägt: „Der Trainer hat in der Halbzeit nicht gesagt, haltet durch, sondern: Es sind nur noch 45 Minuten, um Geschichte zu schreiben“, verriet sein gefeierter Torhüter Bono nach dem Portugal-Sieg.

Die Hotel-Lobby des Wyndham schien einst groß zu sein, jetzt wird sie geteilt durch eine vier Meter hohe Wand. Dahinter die Heimstätte der Marokkaner, die tatsächlich ihre Familien mit im Hotel haben. Der Königlich-Marokkanische Fußballverband hatte vor der WM entschieden, dass die Familien einen Anspruch auf die Reise nach Doha haben. Ins Wyndham.

„Wo wollen sie hin“, fragt mich ein Mitfünfziger mit Leckereien auf dem Tablett vor einem der Fahrstühle. „Am liebsten zu Walid Regragui“, sagte ich scherzhaft. „Das geht nicht“, sagt er mit französischem Akzent, „der ist ganz oben.“ Er meinte zwar die gesperrten Etagen, aber der Satz lässt sich auch anders interpretieren.


Auge in Auge mit dem Falken

Schreib doch mehr über Land und Leute. Zwei fußballfreie Tage. Grund genug, einmal ganz in den Norden zu reisen. Ich treffe Mohammed Seed al-Kubaisi. Nicht irgendwo, sondern bei ihm zuhause, was alleine schon ein Novum ist. Ich wollte einen Katarer kennenlernen und Michi, die seit neun Jahren in Katar lebt, hat mir den Kontakt vermittelt.

Die Gastfreundschaft ist eine Sache, aber Mohammed hat auch eine Botschaft, die er dem Journalisten gerne mitgeben möchte: „Kataris lieben Tiere.“ Vor allem Falken. Der 47-Jährige pflegt die Tradition. Das Jagen mit Falken ist Nationalsport und liegt mit dem Kamelrennen an der Spitze des sportlichen Interesses im Emirat. Die Katarer messen sich in Wettbewerben. Etwa, wer den schönsten oder schnellsten Greifvogel besitzt, aber natürlich auch in der Wüste beim Jagen von Hasen und Vögeln.

Wenn Mohammed über seine Tiere redet, gerät er ins Schwärmen. Falken jagen tagsüber, sie verfügen über eine fast achtmal so gute Sehkraft wie der Mensch und können sich geräuschlos nach unten fallen lassen, wenn sie ihre Beute erspähen. Mohammed bedauert sehr, dass er mich nicht mit in die Wüste nehmen kann, denn seine besten Tiere sind gerade mit seinen Söhnen bei einem Wettbewerb.

Aber natürlich hat er einen Falken im Gehege, der mir wohlgesonnen ist, auf meinem Arm landet und mir Auge in Auge gegenübersitzt. Er scheint Deutsche zu mögen. Ja, Mohammed hat von der Kritik an seinem Land aus Europa gehört, aber das ficht ihn nicht an. Wer über Katar urteile, solle ins Land kommen, sich seine Meinung bilden. Toleranz und Respekt seien die wichtigsten Tugenden, die er seine sieben Kinder gelehrt habe. Korruption hoffentlich nicht.

Wir trinken Tee im Innenhof seines Anwesens, das von der Größe her erahnen lässt, wie gut es den Kataris geht. Die Prämien bei den Wettbewerben sind üppig, außerdem hält Mohammed an Schulen und Universitäten Vorträge über Falken, die vom Emirat sehr gut bezahlt werden. Ach ja, und die Falken natürlich aus: Er fängt sie jung in der Wüste, er trainiert sie und er verkauft sie: Sein teuerster Falke ist im Moment 50 000 Dollar wert.

Eine Frage habe ich mir bis zuletzt verkniffen, bei der freundlichen Verabschiedung wage ich sie zu stellen: Eine, sagt er. Für mehr Frauen habe er gar keine Zeit.

„Kataris lieben Tiere.“ Das ist die Botschaft von Mohammed Seed al-Kubaisi.

„Kataris lieben Tiere.“ Das ist die Botschaft von Mohammed Seed al-Kubaisi.

Foto: Stephan




Die Tränen Brasiliens

Ich hatte diese bitteren Tränen Brasiliens schon einmal erlebt, damals in Belo Horizonte. Das denkwürdige WM-Halbfinale am 8. Juli 2014. Deutschland gegen Brasilien. 7:1. Ein Ergebnis für die Ewigkeit. Beim Blick zurück sind es nicht die Tore, die in der Erinnerung die große Rolle spielen, es sind die Menschen, die hemmungslos weinten. Sie lagen sich in den Armen und wollten sich trösten, wohlwissentlich, dass es für dieses Ereignis keinen Trost geben kann. Sie wollten den WM-Titel im eigenen Land feiern und wurden auf so entsetzliche Art vorgeführt, demontiert. Wir Journalisten, aber auch viele deutsche Fans im Stadion hatten das Gespür für den Moment, Mitgefühl war gefragt. Wenn um dich herum alle heulen, ist es besser die Freude zu verbergen. Die Brasilianer wollten nach den Sternen greifen, aber am Ende war Deutschland im siebten Himmel.

Und jetzt? Wieder Tränen, wieder so ein Trauma. Völlig fassungslos stand Neymar nach dem Elfmeterkrimi gegen die Kroaten im Mittelkreis und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Der vermeintliche Siegtorschütze heulte wie ein Häufchen Elend. Mitspieler nahmen in die Arme und versuchten Trost zu spenden, doch der Superstar war untröstlich, wie alle in Gelb nach den Elfmeter-Fehlschüssen. Neymar war erst als fünfter Elfmeterschütze vorgesehen, doch dazu kam es nicht mehr. Neben mir auf den Rängen schien eine ganze Nation in Trauner vereint. Alle flennten hemmungslos. Wie damals in Belo Horizonte.

Nur wenige hundert Meter entfernt, feierte die weitaus kleinere Kolonie der Kroaten ihren Sieg, den sie sich redlich verdient hatten. Wer Brasilien besiegt, steht zu Recht im Halbfinale.

Doch die Fußballnacht in Doha war mit Brasiliens Niederlage noch nicht beendet. Weil ich ahnte, dass in der Champions-Sportbar viele Argentinier und Holländer ohne Stadionkarte das Abendspiel verfolgen, wollte ich mir dieses Spektakel nicht entgehen lassen. Es war ein Irrtum: Kaum Holländer, dafür viele Brasilianer, die mit Caipirinha ihre Trauer zu lindern versuchten und inständig hofften, dass die Holländer – wie damals die Deutschen im Endspiel in Rio - ihre Schmach mit einem Sieg gegen den Erzfeind Argentinien wenigstens mindern. Vergeblich. Der 9. Dezember 2022 wird als grausamer Tag in die Geschichte Brasiliens eingehen. Als ein Tag mit zwei bitteren Niederlagen.

Das Lebensgefühl beim Kamelrennen
Jeden Abend, wenn der Fußball um Mitternacht vorbei ist, sehe ich im katarischen Fernsehen die Zusammenfassungen der Kamelrennen des Tages. Kamele spielen als Nutztiere keine Rolle mehr im Emirat – sie werden als Renntiere gehegt, gepflegt und gezüchtet. Kamel-Beine können viel Geld einbringen. Einige Kamele sind hunderttausende Dollar wert.

Kamelrennen sind im Emirat die Sportart Nummer eins. Um das Lebensgefühl der Kataris besser zu verstehen, sollte man sich Kamelrennen ansehen, steht im Reiseführer.

Also auf in den Wüstenort Al-Shahaniya. Auf der einzigen Rennstrecke des Emirats ist Hochbetrieb, sagt mir mein Taxifahrer. Ob heute wirklich Rennen stattfinden? Am Start bin ich mit einem Kamerateam von ServusTV alleine. Aber auch den Österreichern wurde gesagt, dass um 13 Uhr gestartet wird. Also stehen wir in der heißen Sonne und wundern uns, dass keine Tribünen oder wenigstens Zuschauer zu sehen sind. Aber wir müssen richtig sein, denn hinter uns postieren sich vier Kamerateams und fünf Pritschenwagen mit Kameras und Personal.

Es ist 12.55 Uhr und hinter der Startlinie bewegt sich was. Von Stallburschen werden Kamele hinter die Startline geführt, die Tiere sind nervös und stampfen von einem Fuß auf den anderen. Wir warten. Dann wird es hinter uns laut. Zwei Dutzend Geländewagen kommen angerast. Vollbremsung. Scheiben runter, Arme raus. Alles Fahrzeuge der gehobenen Klasse.

Dann der unspektakuläre Start, die Begrenzungswand geht hoch und die Kamele flitzen los, nach 15 Sekunden sind sie weg. Hinter uns heulen die Motoren der Geländewagen auf. Im Wagen sitzen die Besitzer, die versuchen, auf Augenhöhe mit ihrem Kamel zu sein, um besser anfeuern zu können. Digital versteht sich. Die Kinder-Jockeys sind längst verboten, zwischen den Höckern wurden kleine Geräte montiert, aus der nur eine Peitsche ragt. Per Joystick wird die ferngelenkte Peitsche bedient, per Lautsprecher das Tier angefeuert. Digitale Welt in der Wüste. Für den Besitzer des Sieger-Kamels gibt es in der Regel einen vom Staat ausgelobten neuen Geländewagen oder Dollars.

Nach fünf Starts in einer halben Stunde, mit einem Spannungs-Level ähnlich dem Billard im TV, ist mein Kamel-Tag beendet. So ganz sicher bin ich mir nicht, was mir dieses Erlebnis in Bezug auf das katarische Lebensgefühl sagen soll.

Raritäten: Corona und Alkohol

Zwei wichtige Dinge in dieser Welt gibt es nicht in Katar: Corona und Alkohol. Jedenfalls nicht vordergründig. Alkohol ist verpönt, Corona irgendwie auch. Noch bis Anfang Oktober galten im Emirat strenge Corona-Regeln mit Maskenpflicht und nachgewiesenen Impfungen als Eintrittskarte ins Leben. Schwierig bei einer WM. Also wurde die Maskenpflicht abgeschafft, WM-Besucher mussten auch keinen Test mehr bei der Einreise vorweisen. Nach jetzt zweieinhalb Wochen WM liegt die Inzidenz in Katar bei 158, was aber nur ein Schätzwert sein kann, denn getestet wird nicht. Im öffentlichen Leben spielt Corona keine Rolle mehr, in der Metro, in den Fanzonen oder in den Stadien drängen sich die Einheimischen und Fans. Wie im normalen Leben vor der Pandemie.

An einem Ort allerdings ist Corona sogar begehrt: „Coronita Cerveza“, das mexikanische Bier, fließt in Strömen in der „Champions-Sportbar“. Ein Hort der Freude, denn Alkohol ist im Emirat kaum zu bekommen, was sich bei den Straßenfeten der Engländer durchaus positiv auswirkt. Doch im „Champions“ im Marriot-Hotel an der Westbay darf jeder trinken, was auch reichlich genutzt wird. 0,25 Liter Bier kosten umgerechnet gut 20 Euro, was niemand sonderlich zu beeindrucken scheint. Das Lokal mit TV-Bildschirmen an allen Wänden ist jeden Abend voll, wie viele der Besucher. Am Dienstagabend ergattere ich gerade noch einen Platz in zweiter Reihe an der Theke. Portugal gegen Schweiz. Viele Afrikaner feiern ihren Sieg gegen Spanien ausgiebig. Vor mir sitzen zwei junge Marokkanerinnen, allenfalls um die 20, die eine eingehüllt in ihre Nationalfahne, die andere im Messi-Shirt ohne Hose. Fröhlich ohne Ende. Vorsichtig kommen wir ins Gespräch. Ich glaubte Mitleid in ihren Gesichtern zu entdecken, als ich mich als Deutscher vorstellte. Als ihr Bier sich dem Ende neigt, wird Nachschub geholt. Lady Messi kommt mit zwei Guiness und zwei Corona zurück. Irritation meinerseits. Sollte ich mich von zwei kleinen Marokkanerinnen aushalten lassen? Aber wieso vier Bier, wir sind doch nur zu dritt? Die Biere landeten auf dem Tisch vor ihnen, mich beachtete niemand mehr. Irgendwann fragte ich mit Blick auf die vier Bier: Ob den ihre Kerle noch kommen? Wieso, antwortete Lady Messi: First half, second half. Erste Halbzeit, zweite Halbzeit. Cheers.

Videotagebuch 6. Dezember





Überleben im Souq

Schön, dass du jetzt mehr über Land und Leute schreiben kannst, höre ich aus der Heimat. Was auf den ersten Blick nicht so einfach ist, denn Kataris hatte ich bisher noch nicht getroffen. „Wir glauben, dass diese Weltmeisterschaft ein Moment der Einheit und Integrität wird“, hatte Fatma Al Nuaimi, die Kommunikationschefin des katarischen „Supreme Committees“, zu Beginn der Spiele gesagt. Was dies bedeutet, fühle ich bei meinem Besuchen im Souq Wagif, dem Schmelztigel der Kulturen und Treff der Fans aus aller Welt. Mitten in Doha, ein Ort der arabischen Tradition, touristisch garniert, aber schon noch so, dass der Orient spürbar wird. Ich liebe die Atmosphäre, feilsche um eine weitere Lampe und freue mich, wenn der Händler mir einen Nachlass gibt und mich zum Arabic Coffee einlädt, der mit grünem Kardamon angereichert wird. Was kein Erlebnis ist. „Healthy“, sagt mein Dealer freundlich und deutet auf sein Herz. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mir nach den zwei Arabic Coffee die kardiologische Vorsorge im nächsten Jahr sparen kann. Und freue mich, dss ich auch das überlebe. Draußen wurde derweil getrommelt, die Marokkaner halten die afrikanische Fahne hoch. „Wir sind sehr stolz, dass wir auch Gastgeber für unsere arabischen Freunde sein dürfen“, hatte mir Alya gesagt, die ich im Medienzentrum traf, bekleidet mit einer Abaya, dem bodenlangen schwarzen Kleid, das die meisten Frauen in Katar tragen. Weil sie mich anspricht (umgekehrt ist das eher nicht erwünscht), kommen wir ins Gespräch, am Ende steht sie sogar für ein Interview zur Verfügung, was ich in den nächsten Tagen schreiben werde. Die arabischen Freunde? Für Katar ist das schon jetzt ein Erfolg, denn lange Zeit knirschte es im Verhältnis der Kataris zu ihren Nachbarn, besonders zum konservativen Saudi-Arabien, auf deren Betreiben noch 2017 ein Boykott Katars durch die Golf-Anliegerstaaten beschlossen wurde, der aber scheiterte. 2021 beendeten die Saudis auf Vermittlung Kuwaits ihr Embargo. Dass die Saudis in Scharen zur WM eingereist und in Katar gefeiert wurden, gehört geopolitisch zu den herausragenden Merkmalen des Turniers.

Mitten im Trubel der feiernden Marokkaner treffe ich am Abend einen Kollegen aus Berlin. „Man muss schon aufpassen, diese Stimmung nicht gut zu finden“, sagte er. Ich bin fassungslos. Ich passe nicht auf.

Videotagebuch 4. Dezember



Schreib, was ist.

Tag zwei nach dem Abflug der Deutschen. Es fühlt sich an wie ein Neuanfang, sich nicht mehr mit den Unzulänglichkeiten beim DFB beschäftigen zu müssen. Zumal ich am Wochenende ein Erlebnis der besonderen Art hatte.

Gut zwei Wochen lang waren meine einzigen Gesprächspartner (außer den Taxifahrern) deutsche Sportjournalisten. Und jetzt traf ich eine junge, alte Bekannte aus dem Norden: Kim, die mit ihrem Mann David bei einem befreundeten Ehepaar zum Deutschland-Spiel eingeladen waren.

Zwei Stunden plaudern, vor allem über Katar und die Deutschen. Wir trafen uns auf dem Souq Waqif. Nirgendwo sonst erinnert das moderne Doha so sehr an den alten Orient wie auf diesem großen Markt, der alles zu bieten hat, was Arabien ausmacht.

Der seit sieben Jahren in Katar arbeitende Freund zeigte sich beim arabischen Kaffee entsetzt über das Bild, das in Deutschland über Katar herrsche. Er ist bei einem internationalen Konzern angestellt und müsse sich pausenlos erklären, warum die Deutschen die katarischen Beteiligungen bei VW, Siemens, RWE oder der Deutschen Bank seit Jahren für ihr Wohlergehen nutzen und jetzt das LNG-Gas aus Katar gerne nehmen - wenngleich mit gespielt rümpfender Nase.

Warum die Deutschen ihre moralischen Maßstäbe an westlichen Standards festmachen und nicht an denen der arabischen Nachbarländer, von Ägypten bis Dubai?

In keinem dieser gern frequentierten Urlaubs-Länder der Deutschen gebe es bessere Arbeitsrechte und doch zeigten die Deutschen mit Entrüstung auf Katar, auch weil da angeblich die Frauenrechte mit Füßen getreten werden. Seine katarischen Kolleginnen könnten über derlei Unsinn nur den Kopf schütteln. Mit offenem Haar.

In dem Golfstaat studieren inzwischen mehr Frauen als Männer, was Hessa al Jaber, zu verdanken sei. Die Informatikerin (Mutter zweier Kinder) war Ministerin für Informations- und Kommunikationstechnologie und gilt als Pionierin für Gleichberechtigung und Gründerin der Universität.

Schreib doch mal, dass Katar vor fünf Jahren eine Frau in den VW-Aufsichtsrat entsandt hatte, was dem deutschen Konzern die Frauenquote rettete, forderte er mich auf. Wenngleich er glaubt, dass das in Deutschland niemand lesen wolle.

Ich verspreche es ihm trotzdem. Hessa al Jaber aus dem Emirat Katar sitzt seit 2016 im VW-Aufsichtsrat.

Reporter-Pleite

Am Freitagabend spielt Uruguay gegen Ghana. Das ist keine Nachricht und kein Thema für eine Kolumne. Oder doch? Sie werden sehen, dass ich am Ende die Kurve bekomme.

Also, ich gestehe, dass ich nicht das erste Mal in Katar bin. Mitte September 2014 wurde der erste Airbus A380 an Qatar Airways ausgeliefert, die Airline hatte gerade als Betreiber den neuen Hamad-Airport in Doha eröffnet. Als Luftfahrt-Journalist war ich von Airbus und den Kataris zum Überführungsflug eingeladen: Finkenwerder – Doha – Frankfurt – Hamburg. Im A380 zu fliegen ist immer ein grandioses Erlebnis.

Der Flug war perfekt, denn es waren allenfalls 50 geladene Gäste und eine Flotte an Stewardessen an Bord, nur wenige Journalisten. Vor mir saßen in der First Class zwei Kerle, geschätzte Mitte bis Ende 20 in grauen Designer-Anzügen, die es sich richtig gutgehen ließen. Typ Schnösel. Sie hatten blendende Laune, viel Champagner auf dem Tisch und scherzten fröhlich mit den Ladys der Airlines, die sich rührend um die Herren kümmerten. Beide gutaussehend, soweit ich das als Mann beurteilen konnte. Neid ist mir fremd, möchte ich an dieser Stelle anmerken.

Nach sechs Stunden erster Klasse im A380 war die Welt in Ordnung. Für die Kerle, für mich, für alle an Bord, denn wir wurden wie Staatsgäste in Doha empfangen. Der erste A380 auf dem neuen Airport war für die Kataris ein Ereignis, die Ankunft wurde live im Fernsehen übertragen. Direkt am Rollfeld startete in einem Hangar die offizielle Zeremonie mit dem Emir Tamim bin Hamad Al Thani.

Nach diversen Reden ging das Licht aus und nach einer grandiosen Videoshow standen zwei Star-Spieler des FC Barcelona auf der Bühne, dem Club, der damals von den Kataris gesponsert wurde. Der Spanier Carles Puyol, der uns im WM-Halbfinale 2010 mit seinem Kopfballtor aus dem Turnier geworfen hatte und Luis Suarez, der als Beißer bei der WM in Brasilien Furore gemacht hatte, weil er im Spiel den Italiener Chiellini in die Schulter gebissen hatte. Vier Monate Sperre und 100.000 Schweizer Franken musste er zahlen.

Jetzt kommt die Kolumnen-Kurve: Luis Suarez (35) spielt Freitagabend mit Uruguay gegen Ghana. Er erinnert mich immer wieder an meine schwärzeste Stunde als Reporter.

Mich traf damals der Schlag: Die beiden Barcelona-Stars waren die beiden Kerle vor mir im Flieger. Und ich habe sie nicht erkannt.


Videotagebuch 30. November


Wow, mal wieder ein richtiger Skandal. Die deutschen Moralwächter sind empört, dabei geht es diesmal gar nicht um den angeblichen Schurkenstaat Katar. Eher das Gegenteil. Eigentlich wird Ex-Profi und Regionalliga-Trainer Sandro Wagner als ZDF-Experte wegen seiner direkten Art geschätzt. Aber nicht, wenn er die Linie der politischen Korrektheit auf entsetzliche Weise verlässt. Die Empörung hält auch am dritten Tag noch an: „Vorhin habe ich gedacht, die ganze Kurve

ist voller Deutschland-Fans. Dann habe ich erst gemerkt, das sind die katarischen Bademäntel.“ Auf der nach oben offenen Richterskala der Gutmenschen ist das ein mittelschwerer Tornado, den der Kommentator beim Spiel gegen Spanien im Repertoire hatte. Oje.

„Rassistisch und ekelhaft.“ Die Empörung im Netz ist immer noch groß. Das ZDF reagierte umgehend: „Sandro Wagners Aussage über den „Thawb“ ist leider in einer emotionalen Phase des Spiels passiert. Das darf es nicht“, schrieb der Sender, und: „Wir werden das besprechen.“ Gestern Morgen las ich im Netz, dass Sandro Wagners Zukunft beim ZDF gefährdet sei. Ein Rassist am Mikro?

„Rassistisch, große Güte“, sagt mein Freund Hasnain Kazim, der Erfolgsautor, der indisch-pakistanische Eltern hat und als Mahner gegen jede Art von Diskriminierung kämpft. „Vielleicht war das abfällig, respektlos, aber gewiss ist es nicht rassistisch, denn wer permanent mit diesem Begriff kommt, entwertet ihn und macht Kampf gegen Rassismus, wo er nötig ist, unnötig schwer.“ Und dann klärt Hasnain Kazim auf seine Art auf: „Und ja, natürlich sieht diese Kleidung aus wie das, was andere als Bademantel kennen.“ Er selbst trage gerne die Standardkleidung „Shalwar Kameez“ aus Südasien, ein weites, bis zum Knie reichendes Hemd und eine lockere Pluderhose. Den Spruch „Na, bist du in deinem Pyjama unterwegs“ höre er gelegentlich. Das sei je nach Kontext lustig, ironisch, zeuge auch von Ahnungslosigkeit, aber eines sei es sicher nicht: „rassistisch.“

Sein Rat: „Der Welt, also uns allen, wäre sehr geholfen, wenn wir nicht in jedem Wort immer das Schlimmste annähmen und anderen Menschen immer die übelsten Gedanken unterstellen.“ Also, Sandro, bleib locker. Und ertrage es, wenn sich die Araber mal über deine Kleidung despektierlich zeigen: Du hast schließlich bei einem Club gespielt, bei dem sie komische kurze Lederhosen tragen.


Videotagebuch 28. November


Willkommen auf dem Planeten Balla-Balla. Zwölf Tage dreht sich meine neue Welt in Katar nur um Fußball. Pressekonferenzen, Spiele live im Stadion oder am TV, dazwischen viele mit Wartezeiten verbundenen Fahrten mit den Shuttlebussen der Kataris.

Und jetzt das: Der DFB-Sponsor VW lädt zu einer Bootstour auf dem Persischen Golf ein. Abfahrt 15 Uhr, was beschleunigtes Arbeiten am Morgen bedeutet.

Die Entschädigung ist grandios, denn wir starten in der Marina von The Pearl. Katarisches Highlife auf höchstem Niveau. Eine künstlich geschaffene Insel mit Protz und Prunk. auf der 30.000 Menschen auf allerhöchstem Niveau leben. Unvorstellbar. In den künstlich angelegten Vierteln wurden allerlei Baustile der Welt kopiert. Apartmenthäuser im Stil der Toscana, der Provence oder Andalusiens. Nirgendwo sind die Zukunftsvisionen der katarischen Stadtplaner so verwirklicht wie auf dieser künstlichen Perle.

Kleines Klugscheißer-Wissen: Zur Jahrtausendwende war Doha von dem Reisejournal Lonely Planet zum langweiligsten Ort der Welt ernannt worden. Doch das sollte sich schnell ändern, denn 1989 wurde gemeinsam mit dem Iran das größte Flüssiggasfeld der Welt zur Wohlstandsquelle der Kataris. Die sagenhafte Entwicklung zeigt sich am Bruttosozialprodukt, das von 7,4 Milliarden US-Dollar im Jahre 1990 auf jetzt 179,6 Milliarden US-Dollar angestiegen ist. Zeitweise hatten die 300.000 Kataris (90 Prozent der Einwohner sind Ausländer) das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Zuerst wurden Luxushotels geschaffen, um Doha in eine neue Ära des Seins zu katapultieren.

Die Bootsfahrt ist grandios, der Sonnenuntergang fantastisch, der Blick auf die Silhouette Dohas atemberaubend. Man muss das nicht mögen – aber gesehen haben. Selbst das so selten zu trinkende Bier wurde auf dem Boot zur Nebensache. Jedenfalls für mich. „Ihr könnt gerne noch in Ruhe austrinken“, hatte VW-Organisator Ingo unserer Medien-Truppe nach dem Anlegen am Pier zugerufen. „Sorry, ich muss los, ich muss sofort zum Spiel Brasilien gegen die Schweiz“, sagte ich entschuldigend.

„Du musst“, stellte Ingo mit Ausrufezeichen fest. Ja, er hatte recht. Manchmal vergesse ich, auf welchem privilegierten Niveau ich mich bei einer Fußball-WM bewegen darf. Alleine das Tor von Casemiro wäre eine bezahlte Eintrittskarte wert gewesen.

Videotagebuch 27. November


27. November: Aus der Gruft geklettert

Na also: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Endlich sahen wir den Hansi Flick, den wir aus seinen Zeiten als Co-Trainer von Jogi Löw und von den Bayern kennen. Ein entspannter, freundlicher, empathischer Typ, der um kurz vor Mitternacht vor die internationalen Presse in Al Khor trat und am Ende sogar scherzte. Was er mit Louis Enrique nach dem Spiel in freundschaftlicher Umarmung zu bereden hatte? „Das sagen wir Euch zu gegebener Zeit später“, sagte Flick mit einem vielsagenden Lächeln. Es klang, als ob sie sich zu einem Wiedersehen verabredet hätten. Im Endspiel?

„Unter den Gesetzen der Fußball-Weltmeisterschaft gibt es allen voran einen bewährten Klassiker: Gib Deutschland niemals auf“, sagte der Kollege von „La Repubblica“ aus Italien neben mir in der Pressekonferenz. Ob ich auch an den Titel glaube? Aus norddeutsch geerdeter Sicht eher nicht. Vorsichtig ausgedrückt.

Apropos, gut 8.000 Journalisten berichten von dieser WM, darunter 150 Zeitungs- und Agentur-Journalisten aus Deutschland. Die Atmosphäre ist freundlich, geschäftsmäßig, viele kenne ich schon lange, wir schätzen uns. Sport-Journalisten sind eine besondere Spezies, meist Einzelgänger und nicht auf Smalltalk programmiert. Besser schreiben als reden. Später am Abend sitzen neben mir auf der Pressetribüne ein amerikanischer Kollege aus Washington und ein englischer Kollege von „The Times“, nett, höflich. Ob ich ihm etwas über einen „Fulkrug“ sagen könnte, den kannte er bisher nicht, fragte der Engländer. Bremen kannte er aber auch nicht. „Goalgetter“, antwortete ich. „Oh, great“, sagte der Kollege, wohl ahnend, dass da etwas Großartiges geschehen könnte.

In den internationalen Pressestimmen fand ich gestern in „The Times“: „Niclas Füllkrug, der Killer mit der Zahnlücke, holt Deutschland aus einem tiefen Loch in Katar.“ Der Amerikaner schreibt in der Washington Post: „Mit einem großen ‚Uff!‘ aus unerwarteter Quelle kurz vor Torschluss hat Deutschland seine Chancen vergrößert auf etwas, das seltener als selten ist in seiner hochdekorierten WM-Geschichte. Es kann noch immer aus der Gruft klettern, kurz bevor der Deckel schließt.“ Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.

Videotagebuch 24. November

24. November: Mit dem falschen Personal angetreten

Da saß er und blickte starr ins Nichts. Wie einst sein Vorgänger Joachim Löw nach dem Ausscheiden gegen Südkorea bei der WM 2018 in Kazan. Fassungslos, desillusioniert. Schon in den letzten Minuten des denkwürdigen Spiels in Doha wendete er sich vom Spielfeldrand ab, schüttelte den Kopf - und lächelte einen kurzen Moment. Wenn Trainer während des Spiels lächeln, kann das gefährlich werden. Das bedrohlichste Lächeln besaß einst Franz Beckenbauer als Trainer, es war schlimmer als Michael Corleones Kuss des Todes. Auch Flick lächelte nur, weil er fassungslos war. Ist das alles wahr? Vorne fehlte seinen Samtfüßlern der Killerinstinkt und hinten befiel dieses vorher einigermaßen gut spielende Team in den letzten 20 Minuten ein rasender Zerfallsprozess.

Hansi Flick konnte einem am Abend nach seiner verkorksten WM-Premiere leidtun. Menschlich gesehen. Fachlich allerdings hat er eine erhebliche Mitschuld an der 1:2-Niederlage.

Es war nicht das nackte Betriebsergebnis, das Flick so tief in den Abgrund der Traurigkeit blicken ließ. Es war wohl auch das Eingeständnis, dass er mit dem falschen Personal angetreten und nicht sonderlich clever bei den Auswechslungen war. Die Idee mit Nico Schlotterbeck war schlicht keine gute Idee, weil das Wort „souverän“ nicht das Attribut war, was den Beobachtern beim Blick auf sein Agieren automatisch durch den Kopf schoss. Flick sprach später von individuellen Fehlern, die so nicht passieren dürfen. Namen nannte er nicht, es bedarf aber keiner Dechiffriermaschine, um zu entschlüsseln, dass die Herren Süle und Schlotterbeck zu den Personen zählten, die ganz oben auf der Fehler-Liste des Trainers stehen.

In eigener Sache gab es vom Bundestrainer am Abend keine Worte, was hätte er auch sagen können, ohne sich selbst zu belasten? Gestern Mittag zeigte er sich in einer digitalen Pressekonferenz aus dem Quartier freundlich und fokussiert, ohne aber auf die Fehler im Detail einzugehen. Was tun mit diesem traumatischen Erlebnis? Mund abwischen? Flick bestätigte, dass es in den nächsten Tagen darauf ankomme, die Spieler zu finden, die mit dem großen Druck am Sonntagabend umgehen können. Nach seiner Gestik und Mimik ist ihm sehr bewusst, dass es schon einer ganz großen Anstrengung bedarf, um die Hypothek dieses WM-Auftaktes zu tilgen. Eine vorzeitige Heimreise droht nicht nur ihm.

Videotagebuch 23. November

22. November: Punktabzug, na und?

Es war mein Tag der Ernüchterung. Ich bin mit der Hoffnung nach Katar gereist, dass sich die Stimmung rund um die WM in Richtung Fußball-Begeisterung drehen wird. Aber leider gibt es bisher nichts, was sich positiv in Rechnung stellen lässt. Das Eröffnungsspiel war ernüchternd, die Parolen von Respekt und Toleranz, die zu hören waren, stellten sich spätestens am Montagmittag als Feigenblätter heraus.

Als einer, der mit Wohlwollen nach Katar gereist ist, um mit einer differenzierten Schreibe über diese WM zu berichten, muss ich feststellen, dass sich das Blatt eher ins Gegenteil gewendet hat. Das Verbot der „One-Love-Binde“ wird dieses Turnier überschatten, egal wie die Deutschen sportlich abschneiden.

Es war ein ungewollt symbolisches Bild, als DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Sport-Direktor Oliver Bierhoff auf dem Rasen des Trainingsplatzes eine Erklärung zum Einknicken vor der Fifa versuchten. So reden Offizielle, wenn sie ein Spiel vergeigt haben. Und das hat der DFB. Auf meine Frage, ob die Nationalmannschaft wenigstens mit einem Kniefall heute ein Zeichen setzen werde, antwortete Oliver Bierhoff ausweichend. Er hätte wenigstens sagen können, nein, denn ein Kniefall würde symbolisieren, dass wir vor der Fifa eingeknickt sind.

Dass die europäischen Fußball-Großmächte England, Belgien, Holland und Deutschland nicht den Mut haben, der Fifa zu zeigen, dass sie sich ihren Einsatz für Menschenrechte nicht verbieten lassen, ist feige. Gelbe Karte, Punktabzug, na und? Im schlimmsten Falle wäre nach der Vorrunde Schluss gewesen. Aber sie hätten aufrecht in den Flieger nach Hause steigen können.

Leider haben die Europäer nicht erkannt, dass es in diesem Fall um mehr als nur um Fußball geht. Mit der Erkenntnis, dass sie ein Stückweit ihrer Glaubwürdigkeit geopfert haben, sind wir zurück nach Doha gefahren. Ernüchtert. Am Abend flimmerten in einer Sportkneipe die historischen Bilder vom Spiel England – Iran über den Bildschirm. Keiner der Iran-Kicker singt aus Protest gegen das Mullah-Regime die Nationalhymne mit, obwohl das im Iran mit Gefängnis bestraft werden kann. Und wir fürchten die Gelbe Karte. Neben mir stehen drei iranische Frauen mit offenen Haaren, die sich in die Arme nehmen und weinen. Ich schämte mich meiner Tränen nicht.

Videotagebuch 21. November

21. November: Europäer haben vor der Fifa gekuscht

Eigentlich hat der zuvor viel kritisierte DFB im Vorfeld der WM und zunächst auch in Katar vieles richtig gemacht. Präsident Bernd Neuendorf war diplomatisch höflich und zugleich deutlich mit seiner Distanz zur FIFA und der Ankündigung, dass der DFB auch Strafen in Kauf nehme, wenn die FIFA die One-Love-Binde sanktionieren sollte. Nun ist der DFB vor der Fifa eingeknickt. War das klug?

Es ist eine verpasste Chance, tatsächlich in Katar mutig aufzutreten. Es war eine gemeinsame Entscheidung der sieben europäischen Verbände, sagt Bernd Neuendorf. Gut, aber es wäre auch eine gemeinsame Demonstration dieser Teams gewesen, ein wenigstens kleines Zeichen als Symbol für Vielfalt und gegen Diskriminierung zu setzen. Die FIFA hat mit ihrem Verbot eine Grenze überschritten. Wer das Eintreten gegen Rassismus und Diskriminierung verbietet, demaskiert sich endgültig. Es ist eine Sauerei mehr dieses Fußball-Weltverbandes mit ihrem autokratischen Präsidenten an der Spitze. Sieben europäische Fußballnationen mögen bei 32 Teilnehmern eine Minderheit sein, mit England, Belgien, Deutschland und den Niederlanden sind da aber auch Schwergewichte des Fußballs im Spiel. Sie haben aus sportlichen Gründen gekuscht. Das war falsch.

Einmal Gelb aus politischen Gründen und beim nächsten Foul möglicherweise Gelb-Rot. Das wäre ein sportlicher Nachteil, keine Frage. Jede deshalb verursachte Rote Karte wäre aber auch eine zusätzliche Aufwertung dieser Aktion gegen Vielfalt und Diskriminierung. Jeder mit Rot vom Platz geschickte Kapitän hätte als Held in den Geschichtsbüchern des Fußballs seinen Platz gefunden.

Videotagebuch 20. November



20. November: Es gibt kein Bier in Katar...

Auch Wasser wird zum edlen Tropfen, mischt man es mit Malz und Hopfen. Schön wäre es, Wasser gibt es genug in Katar, aber kein Bier. Jedenfalls nicht in gewohnter Form für uns Deutsche und vor allem Engländer, die eine bittere Nachricht hinnehmen mussten: Rund um die WM-Stadien ist Alkohol verboten, obwohl das bisher anders zwischen der Fifa und dem Emirat vereinbart war.

Doch am Freitag musste sich die Fifa dem Druck der Katarer beugen und die Bierstände an den Stadien abbauen. Bier gibt es für die Fans nur beim FIFA-Fanfest. Schön, es gibt Wichtigeres in der Welt als das fehlende Bier in Katar, obwohl das sogar von DFB-Direktor Oliver Bierhoff (sein Name hat nichts mit dem Getränk zu tun) in der Pressekonferenz zum Thema gemacht wurde.

Das kurzfristige Bierverbot sei ein Beweis mehr für das unglückliche Agieren der Fifa. Zehn Jahre hatten die Zeit sich vorzubereiten und zwei Tage vor WM-Beginn kommt das Verbot. Also auch für uns Journalisten kein Bier. Wo ist das Problem?

Gut, wir könnten ja mal am Abend zum Fanfest gehen. Nur so, aus reinem journalistischem Interesse. Tilmann Mehl, mein WG-Partner in unserer kleinen Bude in Doha war sofort dabei.

Also auf zum Festival am Meer. Schon der erste Eindruck ließ nichts Gutes ahnen. Dass es da Spaß und Bier gibt, hatte sich rumgesprochen. Massenandrang. Aber wir hatten ja eine Medien-Akkreditierung. Bis zur letzten Sperre gab es keine Hürde, doch dann waren die Schotten dicht. Wegen Überfüllung geschlossen. Wir sollten warten. Wie lange? Keiner konnte das sagen. Ein Blick, Einigkeit. Wir brauchen keinen Alkohol. Wir nicht.

Auch nicht beim Essen in der West Bay, einem schmucken Hotelviertel in Doha. Gute Thai-Küche, Tilmann erfreute sich an einer Cola (seinem Lieblingsgetränk), ich an Wasser zu den Singapore Noodels, die wunderbar mundeten. War bestimmt gut, dass die Schärfe nicht durch Alkohol beeinträchtigt wurde. (Was man sich so alles einredet).

Ob das jetzt eine Fügung Allahs war oder irgendein anderer uns auf den richtigen Weg gebracht hat, blieb offen. Jedenfalls führte unser Nachhause-Turn irgendwie am Marriott-Hotel vorbei. Sports-Bar, stand da unter anderem auf einem Hinweisschild. Ein Blick, Einigkeit. Fußball schauen, ist immer gut für Journalisten.

Schwupps saßen wir mit Hilfe der Medien-Akkreditierung (sonst dürfen da nur Hotelgäste rein) vor einem der gefühlt hundert TV-Bildschirmen inmitten vieler fröhlicher Menschen. Endspiel WM Russland. Frankreich-Kroatien. Interessierte keine Sau. Uns schon. Warum sind wir sonst hier gelandet?

Das Spiel haben wir nur bis zur Halbzeit gesehen. Dann bezahlt. Interessant: Tilmanns Bier war drei Euro teurer als mein Gin-Tonic für 17 Euro.

Videotagebuch 18. November

18. November: Es geht auch um den Fußball

Menschenrechtsverletzungen, schlimme Zustände auf den WM-Baustellen, skandalöse homophobe Äußerungen des katarischen WM-Botschafters - all das muss im Zusammenhang mit der WM in Katar angesprochen werden. Aber im Wüsten-Emirat geht es auch um Fußball.

Am Sonntag rollt der Ball. Endlich. Es geht im Wüsten-Emirat nämlich auch um Fußball. Dabei steht für viele Menschen in diesem Land die WM sinnbildlich für alles, was im Fußball falsch, vielleicht sogar in der Welt falsch läuft. Das ist zu viel des Guten. Der Fußball ist nicht der Auslöser der Krisen dieser Welt. Er spiegelt die Zustände in dieser kapitalistischen Welt, in der Profite mehr zählen als Menschenrechte. Grundsätzlich betrachtet.

Ja, die Menschenrechtssituation in Katar muss benannt werden, ebenso die Zustände auf den WM-Baustellen. Auch die Empörung über die skandalösen homophoben Äußerungen des katarischen WM-Botschafters ist notwendig. Alles richtig. Aber es gibt auch eine andere Sicht, wie die Worte von Otto Addo zeigen: „Vor der Küste zur EU sterben jeden Tag Menschen, weil sie nicht aufgenommen werden. Und sie flüchten aus wirtschaftlichen Gründen, die wir mit verursacht haben“, sagte der Nationaltrainer Ghanas und gebürtige Hamburger, der an die Deutschen appellierte: Man sollte bei aller berechtigten Kritik vor der eigenen Haustür kehren.

Was in der vergangenen Woche an öffentlicher Empörung, verbunden mit Boykottaufrufen zu hören und zu lesen war, mutet schon seltsam an. Die WM durch Wegschauen boykottieren, aber Katar als Handelspartner selbstverständlich hofieren. Die WM verteufeln, aber sich über das Flüssiggas aus Katar freuen. Oder über die im vergangenen Jahr um 75 Prozent gestiegenen Handelsbeziehungen.

Das ist unredlich, denn die Geschichte zeigt, dass Katar allenfalls in einer Folge von weitaus schlimmeren Vergaben steht. Die WM 2018 in Russland. In einem Land, dessen Präsident Wladimir Putin 2015 die Krim annektiert hatte. Ein Verstoß gegen das Völkerrecht.

Davor 2014 Brasilien. Eine WM, die von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff eröffnet wurde, die schon bei der WM heftig wegen Korruptionsvorwürfen in der Kritik stand und zwei Jahre später ihres Amtes enthoben wurde.

2010 Südafrika: Eine WM in einem Land, in dem die Kriminalitätsstatistik damals 50 Morde, 56 versuchte Morde, 150 Vergewaltigungen, 535 bewaffnete Raubüberfälle auswies – am Tag. Südafrika war das mörderischste Pflaster der Welt – und wir haben eine schöne WM gefeiert. Waka, Waka, Shakira haben wir noch alle in den Ohren.

Es geht weiter. 2026 wird die WM unter anderem in den USA gespielt. Die Gefahr, dass ein Donald Trump das Weltereignis für seine Zwecke als US-Präsident nuten könnte, ist zweifelsfrei vorhanden. Furchtbar, nur daran zu denken.

Der schlimmste Sündenfall war 1978 in Argentinien, zwei Jahre nachdem die Militärs die demokratische Regierung zum Teufel gejagt hatten. Wer die Gnade der frühen Geburt erlebt hat, wird sich daran erinnern. Udo Jürgens und die Nationalkicker: „Buenos Dias Argentina, guten Tag du fremdes Land, kommʼ wir reichen uns die Hand.“ Die Militärjunta war begeistert.

Die Moral dieser Geschichte: Kein Fußball-Fan muss sich in diesen Tagen wegen seiner WM-Begeisterung schämen. Fußball ist mehr als Politik. Hinschauen ist besser als wegschauen. Das gilt in Katar auch für den Fußball.

Wolfgang Stephan

Autor

Wolfgang Stephan, Jahrgang 1954, geboren in St. Martin/Pfalz war bis Ende 2021 Chefredakteur im Pressehaus Stade. Heute arbeitet er als freier Journalist für unserer Haus vor allem zu Themen aus Politik und Wirtschaft mit dem Schwerpunkt Luftfahrt. Und: Seit 2006 ist Wolfgang Stephan als Fußballreporter bei allen großen Turnieren für die Redaktionsgemeinschaft Nordsee dabei.

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