Kindern mehr Freiheiten zu geben, sie selbst entscheiden zu lassen, welche Aufgaben sie im Unterricht gerne erledigen möchten, und dies mit speziellen Materialien: Das ist ein integraler Bestandteil der Montessori-Pädagogik für geistig beeinträchtigte Kinder. Ein besonderes Verfahren, das die italienische Ärztin Maria Montessori bereits vor mehr als 100 Jahren entwickelt hat und weltweit anerkannt ist.
Jetzt macht die Montessori-Pädagogik auch bei der Lebenshilfe Bremervörde-Zeven zunehmend Schule. Genauer gesagt in der Selsinger Helga-Leinung-Schule (HLS). Die staatlich anerkannte Tagesbildungsstätte für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung hat sieben Standorte in Selsingen und Umgebung, wo sie mit Kooperationsklassen an allgemeinbildenden Schulen vertreten ist.
Weitere Montessori-Pädagogen für die Lebenshilfe
Drei Klassenleitungen haben sich bereits zu Montessori-Pädagogen ausbilden lassen. Nach den guten Erfahrungen folgen nun zwei weitere: Marcel Arndt vom Standort Karlshöfen und Janine Noetzelmann vom Standort Basdahl, die jeweils im Primarbereich tätig sind. Die beiden beginnen an diesem Samstag die eineinhalbjährige Ausbildung.
Die Theorie findet in Lilienthal statt, hier wird das pädagogische Konzept vermittelt. Denn es kommen sehr spezielle Materialien zum Einsatz, mit denen in besonderer Weise gearbeitet wird. Die Praxisanteile der Ausbildung erfolgen in Montessori-Einrichtungen in Vechta, Wildeshausen und Oldenburg. Hier lernen die Beteiligten den konkreten Umgang am Material, werden eingewiesen, um es selber zu erproben.
Annabell Wahlers von der Lebenshilfe, zuletzt Klassenleitung in Rhade, jetzt stellvertretende Leitung an der HLS: „Vor zwei Jahren haben wir schon drei andere Klassenleitungen aus dem Primarbereich in die standardisierte Ausbildung geschickt.“ Eine davon war sie selbst. „Wir haben einfach gemerkt, wie gut das für unsere Schüler und zu unserem Konzept als Tagesbildungsstätte passt.“ Nun also sind zwei weitere Kollegen dabei. Nach und nach wird das Montessori-Konzept als Bestandteil in das Konzepts der Helga-Leinung-Schule inkludiert.
Schüler begreifen im wahrsten Sinne des Wortes
„Man findet Zugänge für alle Schüler, egal auf welchem kognitiven Stand sie sind oder in welchem Alter“, weiß Annabell Wahlers. „Alles wird sinnhaft vermittelt.“ Die Montessori-Methode sei sehr handlungsbasiert: „Man arbeitet immer am konkreten Material. Und über die Sinneswahrnehmung geht es in den Kopf.“ Das sei ein „Begreifen“ im wahrsten Sinne des Wortes, um die Dinge zu verinnerlichen.
Ein Beispiel: An einem rosa Turm können die Schüler greifbar den Unterschied zwischen Groß und Klein erleben. „Wenn ich einen großen Klotz in der Hand habe und einen kleinen Würfel, habe ich eine sinnliche Vorstellung davon.“ Dies könne dann auf andere Bereiche übertragen werden.
Neben Sinnes- und Dimensionsmaterialien bietet die Montessori-Pädagogik auch solche für Mathematik und Deutsch. Große Zahlenräume etwa ließen sich mit greifbaren Materialien anschaulich erschließen, Rechenverfahren praktisch umsetzen und dadurch viel besser verinnerlichen, „weil man das Wesen einer Rechenart verstehen kann, bevor man mit abstrakten Zahlen hantiert“.
Annabell Wahlers erwähnt auch Übungen für das tägliche Leben. Hintergrund: „In der Tagesbildungsstätte steht der Teilhabe-Aspekt im Vordergrund. Wir möchten die Schüler zu einem möglichst selbstbestimmten, teilhabeorientierten Leben befähigen.“ Montessori habe Übungen des täglichen Lebens entwickelt, um Bewegungsabläufe zu trainieren. Die reichen vom Bügeln übers Wäschefalten und Schleifebinden bis zum Entzünden von Kerzen. Dies alles werde im geschützten Rahmen geübt, um es dann in den eigenen Alltag zu übertragen.
Ein weiterer Vorteil: Das Material ermöglicht eine Selbstkontrolle durch die Kinder selbst, ohne Bewertung von außen. „Kinder werden befähigt, unabhängig von Erwachsenen selbsttätig zu werden und die Persönlichkeitsentwicklung voranzubringen.“ Das fördere das Selbstvertrauen.
Janine Noetzelmann arbeitet in Basdahl schon ansatzweise auf diese Art, weil sie sich über Kollegen und Lektüre bereits damit befasst hat. Gerade in Mathe und Deutsch arbeite sie schon jetzt fast ausschließlich mit den Materialien. „Das ist ansprechend und sehr motivierend für die Schüler.“
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Die Lehrenden nehmen sich zwar zurück, betrachten die einzelnen Kinder aber sehr genau und schauen, auf welchem Stand sie sind. „Entsprechend legen wir darauf Methoden und Arbeitsweisen aus. Mit den Materialien lässt sich sehr gut differenzieren“, sagt Annabell Wahlers. „Unsere Arbeit lebt von der Beobachtung.“
Die Pädagogen seien nahe am Schüler, bekommen so Erkenntnisse, welches Material oder welche Arbeit für welches Kind gerade richtig ist, geben bei Bedarf Impulse. „Es ist eine Herausforderung für die Lehrenden, sich selber zurückzunehmen und vom Kind leiten zu lassen.“ Aber es funktioniert. Schließlich wisse man von sich selbst: „Nur wenn wir wirklich ein Interesse haben, eignen wir uns Sachen leicht an.“ Es nütze nichts, den Kindern Lerninhalte überzustülpen, wenn sie noch nicht so weit sind.
Schüler lernen mit mehr Leichtigkeit
Das Montessori-Konzept wird also künftig verstärkt Einzug halten an den HLS-Standorten Basdahl und Karlshöfen. Vertraut sind damit bereits die HLS-Standorte in Klein Meckelsen und Rhade im Primarbereich sowie in Selsingen in einer Sek-1-Klasse.
Janine Noetzelmann ist sicher, „dass wir den Schülern damit eher noch mehr beibringen können als wir es ohnehin schon getan haben.“ Methodenvielfalt im Sinne einer größtmöglichen Selbstständigkeit.
Annabell Wahlers schwärmt: „Das Faszinierende ist: Alles ist miteinander verknüpft.“ Ein Beispiel: Kinder üben einen Dreipunktgriff, den sie später fürs Schreiben benötigen. „Das ist bei allen Sinnesmaterialien so: Man übt Handbewegungen ein, die alles vorbereiten. Die Kinder lernen, ohne es zu merken, weil sie es für ein Spiel halten.“ So entsteht ein Lernen mit Leichtigkeit. Eine willkommene Bereicherung in der Methodenvielfalt der Lebenshilfe.
Klassenleitung Lea Schotman hat die Montessori-Ausbildung abgeschlossen. Ihre Erfahrung ist, dass die Schüler die Methode gut annehmen, sich frei zu beschäftigen. Sie seien motivierter und ausdauernder, der Unterrichtsgedanke trete in den Hintergrund. Die Kinder vertiefen selber ihren eigenen Wissensstand.
Für manche Schüler ist der Ansatz überfordernd
Gibt es auch Nachteile? Für manche Schüler sei es schwierig, sich selbst zu strukturieren und zu entscheiden, weil es eine große Auswahl gibt, weiß Lea Schotman. „Das kann im ersten Moment erschlagend wirken.“ Das bestätigt Annabell Wahlers: Für manche Schüler sei der Ansatz überfordernd. Daher stellten die Lehrenden zum Teil gezielt Material zur Verfügung.
Alles in allem würden die Kinder selbstsicherer werden. Sie seien manchmal geradezu erstaunt und glücklich über ihre Lernfortschritte, wenn sie wahrnehmen, welche Aufgaben sie bewältigt haben. Ein positiver Nebeneffekt: Sie helfen sich untereinander, der Umgang untereinander sei noch wertschätzender. Denn jeder habe seine eigenen Fähigkeiten und könne sie einbringen.
Annabell Wahlers bilanziert: „Die bereits ausgebildeten Montessori-Pädagoginnen unseres Hauses brachten ihre Kenntnisse in den Unterrichtsalltag ein. Die Erfolge und Veränderungen waren sehr groß und sprechen für sich. Daher ist es der Helga-Leinung-Schule ein Anliegen, die Montessori-Pädagogik im Hause zu implementieren.“

Ein Beispiel von vielen: Die Einführung des Dezimalsystems erlernen Kinder mit Unterrichtsmaterialien, die sie im wahrsten Sinne „begreifen“ können. Foto: HLS