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Das Fahrgastschiff „Flipper“ legt am Dienstagabend gegen 18.30 Uhr im Hafen von Neuwerk ab. 385 Passagiere sollen von der Insel im Watt zurück nach Cuxhaven gebracht werden. Noch im Hafen aber geht nichts mehr: Das Schiff fährt sich auf einer Sandbank fest.
Zu diesem Zeitpunkt herrscht Wind aus Richtung Nordwest mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 6 Beaufort in Böen, teilt die Reederei Cassen Eils auf ihrer Facebook-Seite mit. „Aufgrund des schnell ablaufenden Wassers konnte das Schiff die Fahrt aus eigener Kraft nicht mehr fortsetzen.“
Urlaub, Tag 4. Leider ist unser Schiff auf Grund gelaufen (10 Meter nach Abfahrt) ?? Dann wurden wir evakuiert und nun schlafen wir in der Scheune ??. Es gibt aber Tee ??. Morgen kommt das Ersatzschuff, Abfahrt um 5 Uhr. Kleine Abenteuer. pic.twitter.com/fXC3JQbtWL
— Mara (@MaraKolumna) July 25, 2023
Insulaner legen eine Gangway
Insulanern gelingt es nämlich, eine Gangway vom Hafen zum Schiff zu legen. So können alle Reisenden die „Flipper“ verlassen. Sie verbringen die Nacht auf Neuwerk in Gasthöfen.
Einige müssen in Scheunen auf Matten übernachten. Die Urlauberin mit dem Twitter-Account „MaraKolumna“ zum Beispiel hat eine „muckelige Nacht mit 30 Wildfremden in einer Mini-Scheune“ verbracht. Andere haben mehr Glück.
Eindrücke von der Evakuierung
Das Fahrgastschiff „Flipper“ läuft kurz nach dem Ablegen auf eine Sandbank auf. 385 Menschen müssen evakuiert werden.
Hans-Werner Fock bietet nicht nur Wattfahrten an, sondern betreibt auch das Restaurant und Hotel „Das alte Fischerhaus“. Am Dienstag hat er seine rund 40 Wattwagengäste nach der Schiffspanne wieder aufgenommen, weitere rund 60 Gäste untergebracht und mit Essen und Trinken versorgt.
Er hat schon in der Küche bemerkt, dass da im Hafen etwas nicht stimmt. Normalerweise hört er dort an den Motorengeräuschen, wie das Schiff ablegt und sich entfernt. Am Dienstagabend aber hört das Brummen gar nicht wieder auf.
Daraufhin macht er sich auf zum Hafen, die meisten Neuwerker waren schon da. „Wir sind nicht so viel Leute, da muss jeder mit anpacken“, sagt er und lacht. Wann so etwas das letzte Mal passiert ist? Ungefähr vor 20 Jahren, erinnert sich Fock.
Einige Gäste schlafen im Heuhotel, andere auf dem Bettenboden - zwei große Zimmer mit Einzel- und Stockbetten. Manche entscheiden sich auch dafür, es sich auf der großen Sitzbank gemütlich zu machen, erzählt seine Frau Kathrin.
So war die Stimmung unter den Gästen
Unter den Gästen sind auch Familien mit Kindern, aber keine „ganz kleinen“. Und die Stimmung?
Fock: „Wie soll das sein, wenn man aufläuft, abenteuerlich vom Schiff runter muss und nicht weiß, wie man die Nacht verbringt.“ Aber die meisten sind guter Dinge und einfach froh, dass sie bei ihnen unterkommen konnten.
Selten - aber nichts Besonderes
„Wer sich ein bisschen auskennt, weiß: Das kommt hin und wieder mal bei den tideabhängigen Häfen vor“, sagt Corina Habben, Leiterin Marketing- und Pressekommunikation bei der AG Ems, dem Mutterkonzern der Reederei Eils.
Manche Schiffe könnten sich wieder frei machen, manchmal klappt es aber auch nicht. Die Reedereien planen nach dem Tidenkalender, „aber das ist Natur, da steckt man nicht drin.“
Natur lässt sich auch durch Erfahrung nicht vollständig beherrschen
Eine Windböe hat das Schiff erfasst, auch der Wasserstand war schon ein bisschen niedriger als angesagt und schon war es das gewesen. „Das ist natürlich sehr ärgerlich, aber nicht komplett auszuschließen“, sagt Habben. Final beherrschen könnte man das nicht, das passiere auch den erfahrensten Kapitänen.
Gerade vor Neuwerk ist ein Strömungsbereich, der Untergrund ist ständig im Wandel. „Wir sind sehr vorsichtig, aber das macht es in dem Bereich einfach enorm schwer“, berichtet die Sprecherin der AG Ems.
Glück im Unglück
Wie oft so etwas passiert, kann sie nicht sicher sagen, schätzt aber ein- bis zweimal im Jahr - insgesamt, nicht nur bei ihnen. „Es kann aber auch sein, dass das mal fünf Jahre gar nicht passiert.“
Das Schiff hat sich schnell nach dem Ablegen festgefahren, der Weg an Land war kurz. „Glück im Unglück“, meint Habben.
Monika Tants, Prokuristin der Reederei, ist voll des Lobes über die Neuwerker. „Das war ein super tolles Zusammenspiel. Ich möchte einen Riesendank aussprechen. Die Insulaner haben nachts sofort die Unterkünfte bereitgestellt“, sagte sie gegenüber den Cuxhavener Nachrichten.
Am Mittwochmorgen setzt die Reederei ihre „MS Wappen von Borkum“ ein, um die gestrandeten Urlauber abzuholen. Sie hält damit auch den Neuwerk-Betrieb am Laufen.
Das liegt nicht am Zustand der "Flipper": Das Schiff blieb laut Reederei unbeschadet. Das bestätigt auch eine Begutachtung durch den Germanischen Lloyd. Allerdings gönnt die Reederei der Besatzung nach den Strapazen einen Tag Erholung.
Glück haben die Gestrandeten mit der Hilfsbereitschaft der Insualaner. Die fackeln nicht lang.
Lange braucht es nicht, bis sich die Nachricht vom festgefahrenen Schiff über die Insel verbreitet. „Da standen ganz viele Leute am Schiff, die gewunken haben. Das macht die Runde, das dauert nur Minuten“, sagt Neuwerks Ortswart Christian Griebel und lacht. Der Insel-Funk funktioniert.
Aber was passiert dann?
Mitglieder der Feuerwehr sind mit einem Boot zum Schiff rausgefahren, um Kontakt herzustellen und zu schauen, welche Optionen es gibt. Es lag nur 25, 30 Meter von der Insel weg, doch das Wasser stand noch hoch.
Stromversorgung auf dem Schiff: Drohte Panik?
Lange ist nicht klar, ob die Gäste an Bord bleiben müssen oder evakuiert werden können - und das auch besser wäre. Denn das Schiff hätte nur noch bis Mitternacht Strom - könnte dann eine Panik ausbrechen? An Bord sind unter anderem Familien mit Kindern, Schulklassen und zwei Reisegruppen mit Senioren.
Aber was, wenn sie evakuiert werden? Die Insel ist in der Hochsaison komplett ausgebucht. Deswegen wird zeitweise überlegt, die Gäste nachts durchs Watt wieder an Land zu bringen. Doch dafür sind es zu viele. „Und nachts ist die Strecke auch nicht ohne“, betont Griebel.
Die Hilfe der Insulaner war riesig
Als klar wird, dass das Ersatzschiff am nächsten Morgen auch nicht längsseits gehen kann, um die Passagiere aufzunehmen, fällt die Entscheidung: Die Gäste werden vom Schiff geholt.
Die Retter müssen warten, bis das Wasser abgelaufen ist. Das hat einen Vorteil: Alles kann in Ruhe und ohne Stress organisiert werden, betont Griebel, der selbst in der Feuerwehr ist.
Die Mitarbeiter der „Hamburg Port Authority“ - Hafenmitarbeiter, die unter anderem für den Deichschutz sorgen - unterstützen mit Männern und Geräten, besorgen auch die Gangway. Zwei Feuerwehrleute aus Hamburg, die gerade ihren Dienst auf Neuwerk ableisten, koordinieren die Rettungsaktion mit, auch Langzeiturlauber packen mit an.
Schuhe anlassen oder besser zu Fuß durchs Watt?
Mit der Gangway kommen die Fahrgäste vom Schiff ins Watt. „Das lief alles sehr ruhig und koordiniert“, sagt Griebel, „Eine der wichtigsten Fragen war: Lass ich meine Schuhe an oder gehe ich barfuß.“ Denn die Gäste müssen rund 100 Meter Weg durchs Watt an einer Pfahlwand entlang zurücklegen. Ein Passagier wird aus gesundheitlichen Gründen vorsorglich mit dem Hubschrauber von der Insel geholt.
18.30 Uhr sollte das Schiff ablegen, zwei, drei Stunden braucht es, bis das Wasser weg ist und gegen 23 Uhr sind alle Passagiere runter.
Auf 22 Inseleinwohner und die bereits eingebuchten Touristen kommen für eine Nacht auf einen Schlag noch mal 385 Gäste hinzu. „Wir haben sie wirklich in jeden Raum auf der Insel verteilt. Viele Leute haben im Stroh geschlafen, im Lokal auf dem Fußboden und den Bänken“, sagt Griebel, der das Hotel Nige Hus und das Restaurant „Zum Anker“ betreibt.
Stoff für gute Urlaubsgeschichten
„Sie waren dankbar, aber wirklich Lust hatte natürlich keiner. Das ist ja klar. Unterm Strich war es für die Jugendlichen vielleicht ein Abenteuer, mit drei kleinen Kindern war das sicher nicht so praktisch.“ Es ist auf jeden Fall eine gute Urlaubsgeschichte, wenn alle erstmal ausgeschlafen haben, ist er sich sicher.
Urlauberin twittert über Zwangsübernachtung
So ähnlich sehen es auch eine Urlauberin und ihr 16-Jähriger Sohn, die vormittags auf die Insel gewandert sind. Unter dem Namen „Mara Kolumna“ twittert sie über ihre ungeplante Übernachtung auf Neuwerk.
„Ich bin mir sicher, dass die Leute alles gegeben haben. Aber wir haben mit 30 Leuten in einer hutzeligen Minischeune mit Resten von uraltem Stroh auf gelben Schaumstoffmatratzen geschlafen. Das war ziemlich schrecklich“, sagt sie am Mittwoch gegenüber der Nordsee-Zeitung, lacht und nimmt es doch mit Humor.

In dieser Scheune ist sie zusammen mit ihrem 16-Jährigen Sohn und rund 30 weiteren Urlaubern untergekommen. Foto: Mara Kolumna
Am Ende sind es ja eh nur fünf Stunden bis zur nächsten Fähre und zudecken kann sich auch jeder. Dafür müssen die Insulaner ganz sicher ihre letzten Deckenreserven geplündert haben, meint sie - „Auch so eine ganz schlimme Oma-Häkeldecke mit rosa Blumen.“
Zwei Touristen, die mit dem Wohnwagen da waren, haben Tee und Kaffee gekocht, Brötchen geschmiert. Toiletten gab es gegenüber. Die Leute sind entspannt, spielen Karten - so beschreibt sie die Stimmung in der Notunterkunft. „Die meisten haben einfach richtig gechillt. So norddeutsch ‚wird schon‘.“

Ihr Sohn hat trotz der Umstände „geschlafen wie ein Stein“. Foto: Mara Kolumna
Griebel ist froh, dass alles so gut funktioniert hat. So eine Situation erlebt man nicht so oft. „Aber innerhalb der ersten Hochsaison kostet das auch Kraft.“ Es war eine kurze Nacht, sie laufen heute gleich wieder bei 100 Prozent. „Ist ja nicht so, als würde nun alles Mal für einen Tag anhalten. Aber es nützt ja nichts.“
Mit dem Morgenhochwasser setzt die „Flipper“ derweil am Mittwoch um 6 Uhr ihre Fahrt nach Cuxhaven fort. Zuletzt war die „ MS Flipper“ am 14. Juni 2023 vor Neuwerk im Schlick stecken geblieben. Damals lief ebenfalls alles glatt.

„Weit sind wir ja nicht gerade gekommen“, kommentiert Twitteruserin Mara Kolumna. Foto: Mara Kolumna