Sichtbar wird das Drama der havarierten Nordmole am Morgen des 18. August. Es ist zwischen 4 und 5 Uhr, als im Lotsenhaus, das direkt hinter der Nordmole liegt, ein lautes Krachen zu hören ist. Da liegt der unter Denkmal stehende Molenturm noch im nebligen Halbdunkel. Gegen 6.30 Uhr taucht ein Bild bei Facebook auf, vermutlich von der Weserfähre aufgenommen. Man könnte es für einen schlechten Scherz halten, doch es ist keiner: Die Kaje unter dem schönen Molenturm mit dem roten Dach ist eingesackt. Der Turm steht schief. Bald steht fest: Er hat eine Neigung von gut acht Grad. Das würde für das Guinnessbuch reichen. Kein schiefer Turm weltweit ist schiefer.
Das Molen-Drama: Vom Absturz über den Abriss bis heute
Am 18. August 2022 kommt es zum Desaster: Der Molenturm - Wahrzeichen Bremerhavens - sackt ab. Ein Jahr danach schauen wir auf diese spannenden Tage zurück.
In Bremerhaven finden gerade die maritimen Tage statt
An Land versammeln sich bereits am Morgen die ersten Zuschauer auf der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt, auf der sogenannten Liebesinsel. Aber auch am Deich, im Weserstrandbad blicken Schaulustige zur Nordmole. In Bremerhaven finden gerade die Maritimen Tage statt. Es sind viele Touristen in der Stadt. Auch sie und dazu zahlreiche Journalisten verfolgen in den nächsten zwölf Tagen das Drama. Selbst in den USA wird über den schiefen Turm berichtet.
Bremerhavener sehen in dem Drama politisches Versagen
Die Fragen, die viele Bremerhavener dabei beschäftigt: Warum war das nicht zu verhindern? Warum geht man so mit seinen Denkmälern um? Sie sehen in der Havarie politisches Versagen. Die Kaje an der Nordmole war seit Jahren baufällig und seit 2015 abgesperrt. Zuständig für das Bauwerk ist Bremenports. Die Nordmole befindet sich im Eigentum des Landes Bremen.
Retten, was noch zu retten ist
Nachdem die Sorge gebannt ist, dass der Turm unkontrolliert kippen könnte, versuchen die Fachleute einer Bergungsfirma zu retten, was noch zu retten ist: Der Turm soll zurückgebaut werden. Spezialkräfte wollen als Erstes mit Hochdruck-Wasserstrahlen die rote Haube ablösen. Doch diese erweist sich tagelang als widerspenstig. Warum weiß keiner. Erst das Wissen eines ehemaligen WSA-Mitarbeiters bringt den Erfolg. Er berichtet Bremenports, dass in den 1970er Jahren die Kuppel zusätzlich gesichert worden sei. Mit 24 Haltepunkten, versteckt hinter der hölzernen Verkleidung im Turmrondell.
An Tag zwölf der Havarie muss der Turm dran glauben
Jetzt geht es zügig. An Tag neun der Havarie kann die Kuppel endlich angehoben werden. Sie wird für den Wiederaufbau eingelagert. An Tag zwölf muss der Rest des Turms dran glauben. Die historischen Backsteine, Fenster und Türen werden ebenfalls eingelagert. Die Abrissarbeiten sind bald beendet, der Imageschaden für Bremerhaven aber bleibt.
Und am Schluss soll es die Holzbohrmuschel - auch als Schiffsbohrmuschel bekannt - gewesen sein, wie ein Gutachter Monate später feststellt. Sein Ergebnis: Sie beschädigte die Molenpfähle und spielte wohl eine entscheidende Rolle dafür, dass die Kaje zusammensackte.

Der Blick von oben zeigt das ganze Drama: die Havarie der Nordmole aufgenommen am 19. August 2022. Am Anfang bestand die Angst, der Turm, 1914 errichtet, könnte unkontrolliert umstürzen. Immerhin hat der Turm eine Neigung von gut 8 Grad. Diese Sorgen bestätigen sich aber nicht. Foto: Scheer

Schon seit 2015 war der Weg zum Molenturm gesperrt. Nach der Havarie kommen Absperrband und Bauzäune dazu. Die Geesteeinfahrt wird am 18. August sofort für den Schiffsverkehr gesperrt, damit die abgesackte Mole durch Wellenschläge nicht weiter gefährdet wird. Foto: Scheschonka

An Tag drei der Havarie, am 20. August 2022, geht der schwerlastfähige Ponton „BHV Innovation“ in der Geesteeinfahrt in Stellung. Er ist die Arbeitsbühne, auf der auch 110 Strohquader gestapelt werden, auf die der Turm fallen könnte. Jetzt versuchen die Fachleute der Bergungsfirma zu retten, was noch zu retten ist: Der Turm soll so abgetragen werden, dass später möglichst viele Teile für den Wiederaufbau wieder verwendet werden können. Foto: Scheer

Am Montag, 22. August, werden die Vorbereitungen für die „Operation Hydrojet“ getroffen, damit ab Dienstag die Haube abgeschnitten werden kann. Der Hydrojet soll mit seinem Strahl aus einem Sand-Wasser-Gemisch mit 3000 bar Druck den Stahl durchtrennen. Doch die Haube erweist sich als widerspenstig. Der Turm will tagelang seine rote „Mütze“ nicht hergeben. Foto: Scheer

Woran liegt es, dass die Haube nicht abzubekommen ist? Mehrere Versuche scheitern. Auch Bremenports-Geschäftsführer Robert Howe (Mitte) macht sich aus nächster Nähe ein Bild. Erst ein ehemaliger Mitarbeiter des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA) kann weiterhelfen: Er meldet Bremenports, dass in den 1970er Jahren die Kuppel zusätzlich gesichert worden sei. Mit 24 Haltepunkten, versteckt hinter der hölzernen Verkleidung im Turmrondell. Das wusste keiner. Foto: Scheer

Selbst in den USA und wird über den schiefen Turm von Bremerhaven berichtet. Die damalige Hafensenatorin Claudia Schilling (SPD), Bremenports-Sprecher Holger Bruns und Bremenports-Geschäftsführer Robert Howe (von links) stehen in der Kritik: Warum wurde sich nicht früher um das Bauwerk gekümmert? Ihre Antwort: Der Turm sei ständig überprüft worden. Foto: Scheschonka

Geschafft: Am Freitag, 26. August, um 15.04 Uhr baumelt die knapp vier Tonnen schwere Kuppel am Haken des Mobilkrans und schwebt sachte auf den Ponton. Der Strohballen soll im Fall des Falles einen Aufprall abmildern. Hunderte Schaulustige verfolgen die Bergung live mit. Foto: Scheer

Am Montag, 29. August, beginnt die Demontage des geklinkerten Turms. Die historischen Backsteine, auch Fenster und Türen, werden für den Wiederaufbau eingelagert. Die Abrissarbeiten sind bald beendet, der Imageschaden für Bremerhaven aber bleibt. Foto: Scheer

Danach geht alles schnell. Am 30. August sind die Abrissarbeiten erst einmal erledigt. Was bleibt, ist eine marode Kaje. Der Schwerlastponton „BHV Innovation“, hier von oben mit den Strohballen zu sehen, wird kurz danach wieder in den Fischereihafen geschleppt. Im September werden die Reste der Nordmole abgetragen. Foto: Scheer