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Diese Klinik hilft Igeln in Not

Jeder findet sie niedlich, doch zu sehen bekommt man Igel in der Natur fast nie. Weil sie tagsüber schlafen – und weil sie immer seltener werden. Merwel Otto-Link hat sich der Rettung der drolligen Säuger verschrieben. Dafür treibt die Rotenburgerin mit ihren Vereinsfreunden einen immensen Aufwand.

„Silver“ wird dieser Igel von seiner Pflegerin genannt. Sie wählt für die Tiere in der Regel Namen mit einem Anfangsbuchstaben, der sich nach seinem Fundort richtet.

„Silver“ wird dieser Igel von seiner Pflegerin genannt. Sie wählt für die Tiere in der Regel Namen mit einem Anfangsbuchstaben, der sich nach seinem Fundort richtet. Foto: Bert Albers

„Silver“ liegt rücklings auf der Waage. Was in ihm vorgeht, bleibt dem Besucher ein Rätsel, aber leidend sieht er nicht aus. Eher gleichgültig lässt er die Prozedur über sich ergehen. Er zappelt nicht, versucht nicht, auf die Füße zu kommen und Geräusche macht er auch keine. 974 Gramm zeigt das Display an, 14 Gramm mehr als am Vortag. „Er ist trotzdem noch völlig abgemagert“, klagt Merwel Otto-Link.

„Silver“ oder „Opa Silver“, wie sie ihn wegen seines mutmaßlich fortgeschrittenen Alters nennt, wurde ihr vor ein paar Tagen gebracht – krank und entkräftet. „Er bekommt ein Antibiotikum, weil er diesen weißlichen Nasenschnodder hat.“ Nach der Wiege-Prozedur darf er zurück in seine Box, wo er es sich gemütlich macht. Schließlich ist es gerade Mittag, Schlafenszeit für Igel.

Eine „Intensivstation“ im Keller

„Silvers“ Box steht in einer kleinen Nische im Keller von Otto-Links Wohnhaus. An der Wand hängt ein schmales Schild. „Intensivstation“ steht darauf. Kein Witz. Wer sich umsieht, entdeckt Medikamente, Vitaminpräparate und Verbandszeug, außerdem Laborausrüstung. Am auffälligsten sind die vier Inkubatoren, auch Brutkästen genannt, die sich für Tierbabys aller Art eignen. Also auch für Igel. Wer Zweifel hat, dass das Banner mit der Aufschrift „Igelkrankenhaus“ oben an der Straße ernst gemeint ist, der verliert sie im Untergeschoss: Das ist tatsächlich ein Igelkrankenhaus.

Igelkrankenhaus in Rotenburg - eine Fotogalerie
Weniger Lebensraum, weniger Nahrungsangebot, mehr Gefahren: Der Igel braucht Hilfe. In Rotenburg gibt’s deshalb ein Igelkrankenhaus.

Und zwar eines an der Belastungsgrenze. 609 Igel wurden allein 2020 aufgenommen. Im Herbst, wenn der Nachwuchs aktiv wird, kommen an manchen Tagen drei, vier, fünf hinzu, berichtet die Hausherrin. Wo andere Familien Rasen und Beete in ihrem Garten haben, stehen bei den Otto-Links Schuppen voller Igel-Käfige und -Ställe. Auf einer kleinen Fläche neben der Terrasse finden sich Gehege, in denen die fleischfressenden Säuger auf ihre Auswilderung vorbereitet werden. Wohin man blickt: Igel. Entweder echte oder welche aus Plüsch oder Porzellan, gezeichnete auf Postkarten und Kaffeetassen oder fotografierte auf Sofakissen und Kalendern.

Die Sache mit den Igeln hat sich 2013 zufällig ergeben

„Ich habe das nicht geplant“, sagt die Krankenhaus-Chefin, die mal Krankenschwester gelernt hat, aber ihr Geld als selbstständige Heimtierpflegerin verdient. Ihr Hundesalon befindet sich ebenfalls im Hause. Die Sache mit den Igeln habe sich 2013 zufällig ergeben, als sie einen stacheligen Säugling in ihrem Garten fand. Tags darauf tauchte auch noch dessen Bruder auf. „Die schleppten sich vor meine Füße“, erinnert sich die 52-Jährige. 160 Gramm wogen die Waisen.

Otto-Link brachte die Geschwister über den Winter und wilderte sie wieder aus. Danach war ihr der Ruf einer fähigen Igelretterin nicht mehr zu nehmen. Ihre Tierliebe und ihr Geschick sprachen sich herum. „Das ging rasend schnell.“ Ebenso rasant stieg die Zahl der Tiere, die bei ihr landeten. Selbst aus Cuxhaven und Bremerhaven reisen Tierfreunde mit Igeln in Rotenburg an. Findelkinder, von Parasiten befallene Igel, vor allem aber verletzte. Merwel Otto-Link hilft Igeln mit abgerissen Gliedmaßen, aufgeschnittenen Nasen oder welchen, die skalpiert wurden.

Mähroboter und Motorsensen eine tödliche Gefahr für Igel

Bei all dem Schrecken versucht sie, Humor zu bewahren. Einen rasierten Igel nannte sie mal Danny DeVito, weil der auch eine Glatze hat. Die Verletzungen sind ein Sommer-Phänomen und gehen in der Regel auf das Konto von Gartengeräten. Mähroboter und Motorsensen sind für Gartenfreunde nützlich, für Igel aber eine oft tödliche Gefahr. Selbst über ausgewachsene Igel fahren Mähroboter problemlos hinweg. Zunehmende Bebauung und Landwirtschaft vertreiben den Igel aus der Natur, weshalb er sich in Gärten zurückzieht. Doch dort müsse alles pflegeleicht sein, was erneut Druck aufbaue. „Da wird ja heute jedes Blatt weggepustet“, klagt Otto-Link. Die Folge: Der Europäische Braunbrustigel steht in mancher Region schon auf der Liste der bedrohten Arten.

Oft bemerken es die Menschen nicht einmal, wenn ihre Maschinen einen Igel verstümmeln, der im Gebüsch liegt „Die schreien nicht, sondern schleppen sich weg.“ In ihrer Not werden die Stachelträger dann tagaktiv. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer tagsüber einen Igel sichtet, der sichtet einen Igel in Schwierigkeiten. Er braucht dann Hilfe.

Dieser freundliche Kerl heißt "Nesquik" und hat ebenfalls keine Berührungsängste gegenüber dem Menschen.

Dieser freundliche Kerl heißt "Nesquik" und hat ebenfalls keine Berührungsängste gegenüber dem Menschen. Foto: Bert Albers

Wird ein verletzter Igel gefunden, ist es oft zu spät. Viele müssen sofort eingeschläfert werden. Von den anderen bringt Otto-Link etwa 80 Prozent durch, schätzt sie. Das Wissen dafür hat sie sich nach und nach angeeignet. Veterinäre hingegen brauchte sie eher nicht zu fragen. „Die meisten Tierärzte sind nicht igelkundig. Igel kommen im Tiermedizinstudium nicht vor.“

Bis zu 50 Tiere gleichzeitig kann die vierfache Mutter aufnehmen. Der Verein Igelpflege Rotenburg, den Otto-Link 2017 gegründet hat, betreibt zudem eine Filiale in Bremen mit ähnlicher Kapazität.

Oft ist das Rotenburger Krankenhaus voll belegt. Heißt: Arbeit ohne Ende. Das fängt mit der medizinischen Versorgung an. Medikamente müssen verabreicht, Wunden gespült, Abszesse versorgt, Bäder vorbereitet werden. Die Tiere werden gewogen, ihre Ausscheidungen untersucht. „Nur so bekommt man sie gesund“, sagt die Krankenhaus-Betreiberin. Zudem hat jeder der langnasigen Einzelgänger seine eigene Box, die gereinigt werden muss. Täglich und mit stets frischen Einmalhandschuhen, um keine Krankheiten weiterzutragen.

Stoffnester müssen gewaschen werden

Die Stoffnester, die Freiwillige nähen und die den Tieren als komfortable Höhlen dienen, müssen gewaschen werde. Die Waschmaschine läuft rund um die Uhr. Auch die Fütterung ist eine Herausforderung. Sechs Kilogramm Katzenfutter rühren Otto-Link und ihre Mitstreiter jeden Tag an. Dazu hauen sie 20 bis 25 Rühreier in die Pfanne. Wie finanziert man das alles? Der Verein hat Fördermitglieder und edle Spender, die mit Geld oder Futter helfen. Auch der logistische Aufwand ist von einer Person nicht zu bewältigen. Deshalb kommen stets ein oder zwei Helferinnen, die mit anpacken. Sieben gibt es in Rotenburg insgesamt. Dennoch sind Otto-Links Tage verdammt lang.

Sich nicht um Igel zu kümmern, sei gleichwohl undenkbar. „Ich habe das noch nie bereut“, sagt sie. „Mich fasziniert der Igel einfach. Er ist eines der ältesten Säugetiere überhaupt und erträgt das alles, was der Mensch in der Natur anrichtet.“ Da habe er ja wohl etwas Hilfe verdient.

Merwel Otto-Link wird von "Valone" begrüßt. Er ist eine Flaschenaufzucht und hat eine entsprechend enge Bindung zu seiner Ersatzmutter aufgebaut.

Merwel Otto-Link wird von "Valone" begrüßt. Er ist eine Flaschenaufzucht und hat eine entsprechend enge Bindung zu seiner Ersatzmutter aufgebaut. Foto: Merwel Otto-Link



Bert Albers

Producer

Bert Albers, Jahrgang 1972, ist in Bremerhaven aufgewachsen. Auch während des Politik-Studiums blieb er der Stadt treu. Das Landleben lernte er lieben, als er 1998 zur ZEVENER ZEITUNG ging. Dort blieb er auch nach dem Volontariat, um über alles zu schreiben, was Menschen bewegt.

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