Zeven

Politiker bekommen in Rhadereistedt Frust und Wut zu spüren

Frust, Angst und Wut machen sich unter Landfrauen und -männern breit. Das bekamen die vom Kreislandfrauenverband Oste-Wörpe aufs Podium gebetenen Landtagskandidaten von SPD, CDU, Grünen und FDP Donnerstagabend in Rhadereistedt zu spüren.

Ein Bus fährt zwischen zwei Getreidefeldern.

Schlechte Busanbindung, katastrophale oder keine Radwege - wer auf dem Land wohnt und keinen Führerschein hat, der ist oft aufgeschmissen, wenn er das Dorf verlassen muss, um zur Schule, zum Ausbildungsplatz, zu Freunden oder zur Arbeit zu kommen. Foto: dpa Foto: dpa

Die heiße Phase des Landtagswahlkampfs ist soeben angelaufen, da tingeln die Kandidaten zwischen Bremervörde und Zeven von Dorf zu Dorf, um sich dem Wahlvolk zu stellen - jedenfalls vier von ihnen, denn Willi Heins von der AfD steht bislang nicht auf den Einladungslisten, die von Diskussionsveranstaltern versandt werden. So blieben Donnerstagabend Bernd Wölbern (SPD), Dr. Marco Mohrmann (CDU), Faruk Maulawy (Grüne) und Kevin Leonhardt (FDP) unter sich, als sie sich im Schützenhaus Rhadereistedt vor der Wandtafel mit den Namen der Schützenkönige zur vierten Diskussionsrunde binnen zweier Tage einfanden.

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Das Heimspiel für den Rhader Bürgermeister und Landtagsabgeordneten Mohrmann (48) hatte der Kreislandfrauenverband organisiert. Rund 60 interessierte Bürger wollten hören, mit welchen Argumenten die Kandidaten um ihre Stimmen werben werden. Die Veranstalter hatten Moderatorin Tomma Hangen einen umfangreichen Themenkatalog vorgegeben, den sie mit ihren Gästen abarbeiten möge: medizinische Grundversorgung, öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), schulische Bildung, Landwirtschaft, Gleichberechtigung, Energiewende, Digitalisierung.

Kinder vom Dorf nur dank Eltern-Taxis mobil

Zunächst griff die Moderatorin das Thema ÖPNV auf. Hangen stellte den Kandidaten eine 16-Jährige vor, die ab vom Schuss wohnt und eine weiter entfernte Schule besucht, weshalb das Mädchen Zwölf-Stunden-Tage absolviert. Wie sie der Schülerin zu helfen gedenken, wollte Hangen von den Aspiranten erfahren. Mohrmann referierte aktuell vom Landtag verabschiedete „Verbesserungen“ wie das 30-Euro-Monatsticket für Schüler und Azubis und kündigte die Reaktivierung der Bahnstrecken Zeven-Tostedt und Bremervörde-Stade an. Kevin Leonhardt (32) setzt des flexiblen Einsatzes wegen auf mehr Busse. Faruk Maulawy (27) möchte E-Car-Sharing-Modelle ausbauen. Die E-Auto-Fahrer könnten das Mädchen dann ja mitnehmen. Bernd Wölbern (56) hält einen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung für erforderlich. „ÖPNV muss in den Köpfen ankommen“, fordert er. Es sei an der Zeit, „den Schalter“ umzulegen und auf den Zweitwagen zugunsten des ÖPNV zu verzichten, denn Nachfrage schafft Angebot - unter der Voraussetzung, dass wir den Tarifdschungel „abschaffen“. Zufrieden stellten diese Aussagen die Zuhörer nicht, schließlich sei der Nahverkehrsplan des Kreises nach wie vor Flickwerk, merkte eine Landfrau an.

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Noch tiefer sitzt der Unmut offenbar bei der medizinischen Versorgung des ländlichen Raums angesichts eines Mangels an Haus- und Fachärzten sowie Kliniken. FDP-Kandidat Leonhardt will dem „attraktiven Angeboten“ beikommen, die Ärzte aufs Land locken. Faruk Maulawy wirbt für die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse, um das bereits im Land vorhandene Potenzial zu heben. Christdemokrat Mohr verwies wiederum auf Initiativen und Beschlüsse der Landesregierung, „die Entlastung bringen“ - so die Stärkung der Kliniken in Rotenburg und Bremervörde, die Landarztquote, das Stipendiatenmodell. Auch bei diesem Punkt wählte Sozialdemokrat Wölbern einen strukturellen Ansatz, indem er unterschwellige Kritik daran übte, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen für die Zuteilung von Arztsitzen verantwortlich sind.

Dass die Missstände in den Bereichen Medizin und Pflege lange bekannt sind, „Entlastungen“ zu spät kommen und ungenügend sind, dass sich ein ausbeuterisches System etabliert habe und die Politik mit ihrer Privatisierungsorgie der ungezügelten Profitgier Vorschub geleistet habe, bekamen die Kandidaten aus dem Zuschauerraum vorgehalten. Während Wölbern keine Einwände gegen diese Analyse vorbrachte, machte sein Landtagskollege Mohrmann auf den noch nicht beendeten Strukturwandel in der Kliniklandschaft aufmerksam. Wenn der beendet ist und Doppelstrukturen beseitigt sind, wird’s besser.

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Auch auf dem Feld der Bildungspolitik stellte das Publikum im Schützenhaus „der Politik“ ein schlechtes Zeugnis aus. Der Tenor der Vorwürfe war: Es werde zu wenig gegen den absehbaren Lehrermangel unternommen. Es werde zwar viel Geld für Gutachter sowie Berater ausgeben und in die Wirtschaft gepumpt nicht jedoch in die Bildung. Dem widersprach Marco Mohrmann. Der Bildungsetat sei massiv erhöht worden und der größte im Landeshaushalt. Er verwies auf die Lehrkräfteoffensive und den erleichterten Quereinstieg. Gleichwohl sprach er sich dafür aus, Grundschullehrer besser zu bezahlen und Schulleiter zu entlasten. Ins gleiche Horn stieß Kevin Leonhardt, der dafür warb, digitale Hausmeister einzustellen, um Lehrkräfte von unterrichtsfernen Aufgabe zu entbinden.

Mehr Geld und Personal für Kitas und Schulen

Bernd Wölbern hält es für geboten, in den kommenden zehn Jahren je eine Milliarde Euro zusätzlich in die vorschulische und die schulische Bildung zu investieren, um Versäumnisse aufzuholen. Die dritte Kraft in jeder Kita-Gruppe komme. Analog dazu müsse Standard werden, dass wenigstens drei Fachkräfte je Schulklasse (Lehrer, Sozialarbeiter, Förderpädagoge und gegebenenfalls Schulbegleiter) am Unterricht beteiligt sind. Das ist zugleich Wölberns Antwort auf die Frage, wie Inklusion gelingen kann. Dem gegenüber wollen der Christdemokrat Mohrmann und der Liberale Leonhardt an der Förderschule Lernen festhalten.

Einigkeit unter den Kandidaten sowie unter den Gästen, Veranstaltern und den Kandidaten herrscht hingegen darin, dass der Schulunterricht verstärkt an der Vermittlung von Alltagskompetenzen auszurichten ist, schließlich fehlt es Kindern und Jugendlichen heute allzu oft an Basiswissen und Grundfertigkeiten. Derlei Aufgaben an die Bildungseinrichtungen delegieren zu wollen, zeuge von einer zunehmend arroganten Anspruchshaltung von Eltern, warf eine Pädagogin im Publikum ein und schloss die Frage an: „Was lernen Kinder eigentlich noch im Elternhaus?“ Auch wenn sie in Moderatorin Tomma Hangen jemanden fand, der die in der Frage enthaltene Kritik teilt, so mochte sich keiner der Kandidaten auf das ausgelegte Minenfeld begeben und ihr eine Antwort geben.

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Also auf zum nächsten Thema. Wie Landwirtschaft in Niedersachsen in 50 Jahren betrieben werde, lautete Hangens Frage an die Diskutanten. Da sich Deutschland zur Klimaneutralität verpflichtet habe, müsse Landwirtschaft anders gedacht und betrieben werden, stellte der Grünen-Kandidat fest. „Wenn wir so weiterwirtschaften, sind wir in 50 Jahren nicht mehr da“, lautete seine düstere Prognose, der sich Wölbern anschloss. Kevin Leonhardt setzt auf weniger Verbote, mehr Partnerschaft mit Landwirten und auf technologische Errungenschaften, um die Kurve zu kriegen. Marco Mohrmann sieht dank Digitalisierung und technischem Fortschritt eine rosige Zukunft vor den Bauern liegen. Sie halten Tiere, produzieren Lebensmittel und leisten als Energiewirte einen großen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung.

Und was wird aus den Moorbauern, bei denen die Angst umgeht, um ihre Existenz gebracht zu werden? Der CDU-Kandidat hält nichts von „Wiedervernässungsfantasien“ und hält die Wiedervernässungsfähigkeit etlicher Moore für fraglich. Er und Leonhardt meinen, die auch von Grünen propagierte Moorschutzstrategie sei nicht zu Ende gedacht und münde in einer Entvölkerung von Moordörfern. Maulawy hält das für den Versuch, zwingend erforderlichen Moorschutz und Moorbauern gegeneinander auszuspielen. Es bedürfe eines Miteinanders, um den Strukturwandel zu bewältigen. Bernd Wölbern meint, dieses Miteinander erreichen zu können, indem Landwirte auf Moorstandorten dafür bezahlt werden, dass sie Moorschutz betreiben.

Gäste der Podiumsdiskussion der Landfrauen in Rhadereistedt

Rund 60 Personen waren der Einladung des Landfrauen-Kreisverbandes in das Schützenhaus nach Rhadereistedt gefolgt. Foto: Kratzmann

Thorsten Kratzmann

Reporter

Thorsten Kratzmann stammt aus Zeven, hat in Göttingen und Hamburg Geschichte, Ethnologie und Politik studiert und ist seit 1994 bei der Zevener Zeitung beschäftigt.

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